Streitschrift für Anarchosyndikalismus, Unionismus und revolutionären Syndikalismus

Über Hildburghausen ins dritte Reich – Gerhard Wartenberg

Wir veröffentlichen diese Broschüre, die unter seinem Pseudonym H. W. Gerhard erschien, als digitalen Reprint in Erinnerung an unseren Genossen Gerhard Wartenberg, der 1942 von den Nazis im KZ Sachsenhausen ermordet wurde. Und weil diese Schrift ihre Aktualität auch heutzutage leider nicht eingebüßt hat.

Reprint der Ausgabe von 1932. Erschienen im Verlag „Der Syndiklaist“ Berlin.

Aus gegebenem Anlaß

I.
Die thüringische Kreisstadt Hildburghausen ist in den letzten Wochen als ein Corona-‚Hotspot‘ in die Berichterstattung gelangt. Und als ein Zentrum von Demonstrationen der Corona-Leugner. Nicht ganz so prominent berichtet wurde über den seit Jahren bestehenden ‚Hotspot‘, den die Stadt für die rechtsextreme Szene darstellt.

II.
Die Stadt geriet schon einmal in die Schlagzeilen, im Jahr 1932, als ruchbar wurde, daß der staatenlose ‚Führer‘ der NSDAP Adolf Hitler – der 1925 seine österreichische Staatsangehörigkeit freiwillig aufgegeben hatte – 1930 durch Ernennung zum Gendarmeriekommissar (Leiter der Polizeidienststelle) von Hildburghausen verbeamtet wurde und damit automatisch die thüringische Staatsbürgerschaft erhalten hatte – was ihm wiederum erst ermöglichte, für ein Staatsamt im Deutschen Reich zu kandidieren (eine Reichsbürgerschaft wurde erst 1934 von den Nazis eingeführt). Eingefädelt hatte dies der thüringische Innenminister und Minister für Volksbildung, Wilhelm Frick (NSDAP), der der ersten unter Beteiligung der Nazis gebildeten Landesregierung in Deutschland angehörte (Baum-Frick-Regierung).

III.
Seit 1925 hatte es verschiedene erfolglose Versuche gegeben, Hitler ‚einzudeutschen‘. Alle wurden peinlichst geheim gehalten. Warum allerdings die Reichsregierung oder andere deutsche Behörden es verabsäumten, den österreichischen, seit 1925 staatenlosen Putschisten (heute würde er wohl zumindest als „Gefährder“, korrekter allerdings als „Terrorist“ bezeichnet werden) des Landes zu verweisen – was nach damaligem Recht durchaus möglich gewesen wäre – ist eine interessante Frage. Eine naheliegende Antwort ist: die offene und verdeckte Komplizenschaft staatlicher Institutionen mit dem ‚völkischen‘ Terroristen.

IV.
In Hildburghausen schien es endlich geklappt zu haben mit der ‚Eindeutschung‘. Angeblich soll Hitler aber die Ernennungsurkunde nach einigen Tagen Bedenkzeit zerrissen haben – „Kreisstadtgendarm“ schien ihm für seine Person nicht bedeutend genug gewesen zu sein – und danach habe auch Frick die von Hitler unterschriebene Empfangsbestätigung vernichtet. Der ‚Führer‘ war damit – zumindest in seinem Selbstverständnis – wieder staatenlos.
Die Geschichte flog im Januar 1932 auf und zog neben einer Spottkampagne in der Presse auch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Thüringer Landtags nach sich. Konsequenzen hatte das allerdings nicht.

V.
Die ungeklärte Staatsbürgerschaftsfrage mußte 1932 allerdings endgültig geklärt werden, da Hitler bei der Reichspräsidentenwahl vom 13. März 1932 kandidieren wollte. Abhilfe schuf die Landesregierung des Freistaates Braunschweig, die seit September 1930 von einer Koalition aus bürgerlichen Parteien und den Nazis gestellt wurde. Am 25. Februar 1932 ernannte sie Hitler zum »Regierungsrat beim Landeskultur- und Vermessungsamt« mit Dienstpflicht als Sachbearbeiter bei der Braunschweigischen Gesandtschaft am Lützowplatz in Berlin – einen Posten, den der frisch Gekürte nie antrat. Er hatte schließlich wichtigeres zu tun.

VI.
Dies ist der engere geschichtliche Hintergrund der Schrift »Über Hildburghausen ins dritte Reich!« von Gerhard Wartenberg, die unter seinem Pseudonym H.W. Gerhard im Verlag »Der Syndikalist« der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten) 1932 veröffentlicht wurde, und die wir hier als digitalen Faksimile-Reprint veröffentlichen – in Erinnerung an unseren 1942 von den Nazis ermordeten Genossen Gerhard Wartenberg. Und weil diese Schrift ihre Aktualität auch heutzutage leider nicht eingebüßt hat.

VII.
1981 erschien eine Neuauflage im AHDE-Verlag Berlin/W, die mittlerweile auch nur noch antiquarisch erhältlich ist. Die Herausgeber schrieben seinerzeit dazu:

»Diese anti-nazistische, konsequent demokratische, freiheitlich sozialistische Schrift, kurz vor der Errichtung der NS-Diktatur erschienen (Herbst 1932), konnte nur noch relativ wenige Leser erreichen. Die Schließung des Verlages durch die „Ordnungskräfte“ der im Januar 1933 etablierten NS-Diktatur machte eine weitere Verbreitung unmöglich.

Der Titel der Schrift: „Über Hildburghausen ins dritte Reich!“ spiegelt die „Komödie“ wider, wie sich Adolf Hitler, der Bürger der Republik Österreich, zum Bürger der von ihm gehaßten Weimarer Republik mauserte. Nur so konnte er formaljuristisch ein Staatsamt im Deutschen Reich übernehmen. (…)

Der Verfasser H.W. Gerhard (d.i. Dr. Gerhard Wartenberg, 1904-1942), seit 1922 in der anarchistisch-syndikalistischen Jugend tätig, Mitglied der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft „Freie Arbeiter Union Deutschlands”, 1926 Herausgeber der Zeitung „Der Bakunist“, 1929 halbjähriger Aufenthalt für eine französische Chemiefirma in der UdSSR, Mitarbeiter an verschiedenen anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Zeitschriften (u.a. „Der Syndikalist”, Mühsams „Fanal‘) meist unter dem Pseudonym Berg oder Gerhard, wurde 1938 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Anschließend kam er ins KZ-Sachsenhausen. Dort ist er angeblich an Tuberkulose gestorben. Wartenberg war einer der konsequentesten und frühesten Warner vor allen Spielarten des Faschismus und ein entschiedener Gegner jeglicher Form von Staatsherrschaft.

Seine Schrift dokumentiert durch zahlreiche Zitate von NS-Größen die nazistische Gewaltherrschaft in ihren Hauptausdrucksformen, wie sie dann im „Tausendjährigen Reich“ praktiziert wurden.

Wartenbergs Ausführungen über die kommende nazistische Apokalypse ist aber auch zugleich eine Abrechnung mit dem Versagen der sogenannten anti-faschistischen Kräfte/Arbeiterparteien, ihren Fehleinschätzungen, ihrer meist kampflosen Tolerierung der kalten und heißen Machtergreifung.«

Archiv Karl Roche
Hamburg-Altona, 29. Dezember 2020

Literatur:

Felix Durach, Hildburghausen mit Inzidenz über 500: Von der Neonazi-Hochburg zum Corona-Hotspot; in: Merkur (München), 01.12.2020
https://www.merkur.de/politik/corona-hotspot-hildburghausen-neonazis-landrat-demonstration-morddrohung-npd-zr-90116435.html

Manfred Overesch, Die Einbürgerung Hitlers 1930; in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 40/1992, Heft 4, S. 543 – 566
http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1992_4.pdf

Hans-Jürgen Salier, Einbürgerung Hitlers. Von der wundersamen Einbürgerung eines Österreichers in Hildburghausen [zuerst in: Hans-Jürgen Salier und Bastian Salier, Hildburghäuser Lesebuch, Hildburghausen, 1999, S. 153 ff. (Verlag Frankenschwelle KG)]
http://www.schildburghausen.de/sagen/einbuergerung-hitlers/

Robert W. Kempner (Hrg.), Der verpaßte Nazi-Stopp. Die NSDAP als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung. Preußische Denkschrift von 1930, Berlin/W 1983 (Ullstein-TB)

Wikipedia: Einbürgerung Adolf Hitlers
https://de.wikipedia.org/wiki/Einb%C3%BCrgerung_Adolf_Hitlers

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